Jede zehnte Frau leidet unter dicken, schmerzenden Beinen. Doch dass dahinter eine Erkrankung stecken könnte, ist den meisten Betroffenen nicht bewusst.

Lia Lindmann
ist Ratgeberautorin, Gesundheitsjournalistin und Beraterin. 2012 hat sie selbst die Diagnose Lipödem erhalten und befand: Es gibt viel zu wenig verlässliche Literatur zu dieser weit verbreiteten, schmerzhaften Erkrankung. Also hat sie das geändert. Lia Lindmann wurde für ihre Arbeit von Institutionen wie den Vereinten Nationen und UNESCO ausgezeichnet. Sie bietet individuelle Beratung für Menschen mit Lipödem und Adipositas an. Lia Lindmanns Ratgeber „Leichter leben mit Lipödem“ wird von Betroffenen und Ärzten empfohlen. Auf Facebook leitet sie eine Selbsthilfegruppe gleichen Namens. Besondere Interessensgebiete: Ernährungswissenschaft, Schmerzmedizin, Lymphologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychologie, Naturheilkunde, Pädagogik und Transgeschlechtlichkeit.
Woran erkennt man die Erkrankung Lipödem?
Bevor Betroffene eine Diagnose erhalten, bemerken sie meistens dicke, schwere Beine, die nicht zum Rest des Körpers zu passen scheinen. Beim Gehen, Stehen oder Sitzen haben sie Schmerzen. Sehr leicht entstehen blaue Flecken. Viele Betroffene klagen auch über Erschöpfung und Antriebslosigkeit.
Welcher Arzt kann helfen?
Oft machen Betroffene die Erfahrung, dass Ärzte ihre Beschwerden nicht ernst nehmen. “Bewegen Sie sich mehr!”, “Nehmen Sie ab!” Das sind übliche Ratschläge von Allgemeinmedizinern, die hier nicht hilfreich sind. Betroffene sollten also nach Spezialisten suchen. Diese sind in den Bereichen Phlebologie, Lymphologie und Dermatologie zu finden.
Kann man trotz Lipödem Gewicht verlieren?
Jein. Die Gewichtsreduktion bei Lipödem ist enorm erschwert. Das Fettgewebe ist verändert und durch Fibrosen verhärtet. Diese Strukturen lassen sich nicht ohne Weiteres lösen. Zusätzliches Übergewicht, das nicht verhärtet ist, kann reduziert werden. Es ist allerdings wichtig, anzuerkennen, dass auch dieses Gewicht für Lipödembetroffene oft hartnäckig ist: Ein veränderter Hormonhaushalt und Stoffwechsel stellen große Herausforderungen dar. Wenn das Fettgewebe noch nicht stark verhärtet ist, ist es aber möglich, mit einem guten Gesundheitskonzept bei bedarfsgerechter medizinischer Versorgung, Besserung zu erzielen und auch Gewicht abzubauen.
Bringt Bewegung Linderung?
Ja, Bewegung lindert. Insbesondere im Wasser (ohne Kompressionsversorgung) und an Land (mit Kompressionsversorgung). Dabei gilt: Leichte, regelmäßige Bewegung reicht völlig aus. Sehr intensive Sportarten können auch schädlich sein. Und Sport ohne Kompression ist fast immer kontraproduktiv.
Inwieweit hilft eine Umstellung der Ernährung?
Hier kommt es auf die Ausgangslage an. Viele Betroffene ernähren sich äußerst gesundheitsbewusst und teilweise auch unterkalorisch. Leider folgen aber auch einige unqualifizierten Gesundheitstipps oder Crashdiäten, die die Situation verschlechtern. Bei der Umstellung der Ernährung ist es wichtig, lipödembezogene Ratschläge zu befolgen und sie in ein ganzheitliches Therapiekonzept einzubinden.

Welche Therapiemöglichkeiten und Hilfsmittel gibt es?
Typischerweise werden zwei schulmedizinische Therapien empfohlen: Die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE) und die Liposuktionen, also die operative Entfernung des erkrankten Fettgewebes. Zunächst findet die Entstauung mit Kompressionsstrumpfhosen, Lymphdrainagen, Bewegungstherapie statt. Diese nichtoperative Maßnahmen können aber im Anschluss an Operationen fast immer reduziert werden. Gutsitzende Kompressionsstrumpfhosen sind in jedem Fall zentral. Betroffene finden es meistens zu Beginn der Therapie sehr schwierig, sich daran zu gewöhnen, erfahren bei konsequenter Anwendung aber Linderung.
Gibt es psychologische Unterstützung für Betroffene?
Viele Psychotherapeutinnen sind auf Gebiete spezialisiert, die an das Lipödem angrenzen: ein gestörtes Körperbild, Essstörungen, Minderwertigkeitskomplexe, Schwierigkeiten in Sexualität und Partnerschaft, soziale Isolation und chronische Depression. Doch es bräuchte viel mehr spezialisierte Therapieplätze. Allerdings suchen sich nur wenige Betroffene Hilfe. Die Enttäuschung durch Ärzte und das Gefühl der Schuld und Scham halten sie davon ab. Auch aus diesem Grund biete ich seit drei Jahren Lipödemberatung an, bei der auch die Psyche viel Raum bekommt.
Können Medikamente helfen?
Es gibt bisher keine Medikamente, die das Lipödem heilen. Ebenso führen Operationen nicht zwangsläufig zu einer Heilung. Dennoch ist es wichtig, sich mit Medikamenten auseinander zu setzen. Welche Medikamente nimmt eine Betroffene bereits aufgrund von anderen Erkrankungen oder als Verhütungsmittel ein? Gibt es Alternativen, die sich nicht nachteilig auf das Lipödem auswirken? Werden Schmerzmittel eingenommen? Hier ist es an vielen Stellen möglich, Besserung zu finden oder Verschlechterung aufzuhalten.

Für ihr Buch “Leichter leben mit Lipödem” (humboldt, 19,99 €) hat Lia Lindmann weltweit Interviews mit Expertinnen aus vielen Gesundheitsbereichen geführt, die neuesten Erkenntnisse aus der Fachliteratur zusammengetragen und mit den Erfahrungen von Betroffenen verknüpft. Das Buch wurde von der Stiftung Gesundheit zertifiziert.