Es ist schon verwirrend. Erst waren Dehnübungen vor dem Sport unerlässlich, dann galten sie als überholt (und sogar schädlich), jetzt gehen Experten wieder einen Schritt zurück und sagen: Dehnen? Ja, aber nicht um jeden Preis.
Früher gehörte es zum kleinen Einmaleins der Sportstunde: Vor dem Laufen, Springen oder Turnen wurden die Glieder gebeugt, gestreckt oder gezogen. Denn lange galt die Regel: Wer seine Muskeln dehnt oder neudeutsch „stretcht“, erhöht die allgemeine Beweglichkeit, vermeidet Muskelkater und hält das Risiko für Muskelrisse oder Zerrungen gering.
Dann gerieten Dehnübungen in Verruf. Immer mehr Studien kamen zu dem Schluss, dass statisches Stretching (das Ausharren in einer Position) die Muskelkraft reduziere und die sportliche Leistungsfähigkeit anschließend einschränke. Gegen die winzigen Muskelrisse des Muskelkaters kommt das Dehnen auch nicht an. Und das Verletzungsrisiko nach dem Stretchen ist sogar höher, hieß es.
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Gut oder schlecht – Was denn nun?
Jüngst verglichen US-amerikanische Wissenschaftler 200 Studien miteinander, die untersucht hatten, wie statisches Dehnen die anschließende Sporteinheit beeinflusst. Das überraschende Ergebnis: Sich zu dehnen, ist eigentlich keine schlechte Idee, auch wenn sie nicht immer die beste ist.
Die schlechte Nachricht: Muskeln haben weniger Kraft, wenn sie zuvor gebeugt und gedehnt wurden. Die gute: Aber nur, wenn man jede Dehnübung 60 Sekunden hält und danach ohne weiteres Aufwärmen lossprintet. Das sind Laborbedingungen, sagt Malachy McHugh, ein Autor des Studienvergleichs. Im echten Leben bleiben die meisten Leute nicht 60, sondern eher 30 Sekunden in der angespannten Position. Ganz davon abgesehen fällt Freizeitsportlern das kleine Leistungsdefizit im Anschluss vermutlich sowieso kaum auf. Wichtiger als die Krafteinbußen ist für die Forscher die Erkenntnis, dass leichte Stretchphasen im Aufwärmprogramm das Verletzungsrisiko tatsächlich mindern.
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Läufer laufen, Turner dehnen
Dehnen kann also positive Effekte haben, es ist nur nicht für jede Sportart gleich sinnvoll. Jogger und Fahrradfahrer zum Beispiel haben ohnehin kein großes Risiko für Muskelverletzungen. Sie müssen im Vorfeld also nicht unbedingt dehnen, nur um sich vor solchen Schäden zu schützen. Dr. McHugh rät Ausdauersportlern hingegen, sich ausreichend mit sportarttypischen Bewegungen aufzuwärmen. Für den Jogger heißt das: locker loslaufen oder ein sogenanntes Lauf-ABC (eine Reihe von kleinen Übungen) dem Workout voranstellen.
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Bei Sportarten, die ein hohes Maß an Beweglichkeit voraussetzen, stufen Sportwissenschaftler aufwärmende Dehnübungen als förderlich ein. Die Muskeln werden geschmeidig und flexibler. Das hilft, wenn der Bewegungsspielraum im Anschluss groß ist, der Fuß zum Beispiel auf Kopfhöhe gehoben werden muss – wie im Kampfsport, Tanzsport und beim Turnen üblich.
Dehnen, wenn es guttut
Auch beim Sport gilt: Wer auf seinen Körper hört, macht vieles automatisch richtig. Solange keine Schmerzgrenze überschritten wird, ist das Verletzungsrisiko beim Dehnen gering. Aus medizinischer Perspektive spricht also nichts dagegen, vor dem Joggen eine Stretchingeinheit einzulegen. Überbewegliche Menschen, die leicht umknicken, sollten ihre Muskulatur allerdings nicht weiter ausleiern, sondern eher kräftigen. In diesen Fällen ist Muskelaufbau statt Muskeldehnen angebracht.
Wissenschaftler sind noch immer unentschieden, wie groß die positiven Effekte von Dehngymnastik in der Aufwärmphase wirklich sind. Die entspannende Wirkung ist dagegen unstrittig, ob nach dem Sport oder einem langen Arbeitstag im Sitzen. Dehnen erhält die Beweglichkeit, beugt Verspannungen vor oder baut sie ab.