Nach außen hin sind sie die liebevollsten Mütter, doch hinter verschlossenen Türen misshandeln sie ihr Kind. Für viele mag dieses Krankheitsbild unvorstellbar grausam sein, doch es gibt tatsächlich Menschen, die unter einem sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leiden. Dann werden die eigenen Kinder zum Opfer eines langen Leidensweges.
Was ist das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Hinter der Krankheit mit dem sperrigen Namen Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (auch Münchhausen-by-proxy-Syndrom genannt) verbirgt sich eine Sonderform des Münchhausen-Syndroms. Während bei letzterem die Betroffenen sich selbst Schaden zufügen, um ärztlich behandelt werden zu müssen, machen die Betroffenen des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms andere Menschen absichtlich krank, damit diese eine ärztliche Behandlung brauchen.
In den meisten Fällen sind dabei die eigenen Kinder die Opfer – also zum Stellvertreter – für die körperliche Misshandlung. Deshalb gilt das Syndrom als schwere Form der Kindesmisshandlung, die bei den Opfern zu psychischen und physischen Schäden führt.
Grausame Mutterliebe
Für normale Menschen klingt das unvorstellbar, doch die Betroffenen leiden unter einer psychischen Störung, die sie zu diesen Taten treibt. Mit einer Häufigkeit von 90 Prozent sind Mütter davon betroffen, deshalb trägt die Krankheit auch den Namen „grausame Mutterliebe“. Nur äußerst selten kommt es vor, dass ein erwachsener Mann einen anderen Erwachsenen misshandelt. Diese Form heißt dann „Münchhausen-by-adult-proxy-Syndrom“.
Die Namensherkunft leitet sich übrigens vom Münchhausen-Syndrom ab, das wiederum den Namen von Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen erhielt. Der ging als „Lügenbaron“ in die Geschichte ein, daher der Zusammenhang zu den frei erfundenen Krankheitsgeschichten.
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom oft unerkannt
Obwohl das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sehr selten auftritt, gehört es zu den häufigsten unerkannten Erkrankungen. Denn einer fürsorglichen Mutter lässt sich schwer nachweisen, dass sie selbst schuld am Leiden ihres Kindes ist. Neben leiblichen Müttern zählen übrigens auch Stiefmütter oder Pflegemütter zu den Betroffenen. In den allerwenigsten Fällen ist der Vater der Misshandler des Kindes. In Deutschland gibt es pro Jahr etwa 50 bis 200 Fälle, die Dunkelziffer könnte jedoch weit höher liegen.

Was sind die Ursachen des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms?
Die Betroffenen haben den Drang, jemand anderen absichtlich krank zu machen. Zu den häufigsten Ursachen für ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom zählt eine Persönlichkeitsstörung. Interessant ist, dass die Betroffenen oft selbst einen medizinischen Beruf ausüben, beispielsweise als Krankenschwester oder Pflegerin. Manche geben auch nur vor, in dem Bereich tätig zu sein, um eine kompetente Wahrnehmung von anderen zu erhalten.
Andere haben hingegen in der Kindheit viel Zeit bei Ärzten und in Krankenhäusern verbracht. Dadurch kennen sie sich gut mit Krankheiten und deren Symptomen aus und können die Beschwerden auch vortäuschen. Oft fehlt den Betroffenen komplett die Gabe, Mitgefühl für andere Menschen zu empfinden. Dafür können auch traumatische Erlebnisse oder Missbrauch in der Kindheit verantwortlich sein.
Meistens leiden Menschen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom auch unter anderen psychischen Störungen, wie
- Essstörungen
- Borderline-Syndrom
- Depressionen
- Narzissmus
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Was sind die Symptome des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms?
Beim Münchhausen-Syndrom verletzen sich die Betroffenen selbst. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom wird hingegen das eigene Kind als Stellvertreter misshandelt. Zu den Symptomen gehört deshalb die gezielte Kindesmisshandlung:
- Die Mütter brechen ihrem Kind mit Absicht die Knochen.
- Sie verabreichen ihrem Kind Medikamente, die zu Durchfall, Erbrechen oder anderen Krankheitssymptomen führen.
- Sie fälschen Urinwerte, Blutwerte oder die Körpertemperatur.
Dabei besitzt die Krankheit drei Phasen:
- In Phase 1 berichten die Mütter dem Arzt von Symptomen, die das Kind gar nicht hatte, z.B. epileptische Anfälle, Atemstillstand oder Herz-Probleme.
- In Phase 2 fälschen die Mütter tatsächlich Daten und Messwerte, um eine Krankheit des Kindes vorzutäuschen.
- In Phase 3 fügen sie dem Kind körperlicher Schaden zu, sei es durch Verletzungen oder die Gabe von Medikamenten, die eine Vergiftung oder Krankheitssymptome auslösen. Auch ungeeignete Nahrungsmittel (z.B. zu viel Salz im Essen) können bewirken, dass es dem Kind wirklich schlecht geht. Sogar ein Erstickungsversuch mit einem Kissen ist möglich.
Nach der Manipulation des Gesundheitszustandes des Kindes rufen die Betroffenen den Notarzt oder fahren direkt selbst in die Notaufnahme. Dort treten sie als besonders fürsorglich auf, denn der Zwang des Syndroms besteht darin, als überfürsorgliche Mutter Anerkennung zu ernten.
Ein Alarmsignal für Ärzte kann sein, wenn die Mütter unbedingt eine Operation für ihr Kind erzwingen wollen, die eigentlich gar nicht nötig ist. Ebenfalls verdächtig ist es, wenn der Arzt keinen echten Grund für die Beschwerden des Kindes findet.
Typische Lebensumstände der Betroffenen
Ziel dieser Mütter ist es, Aufmerksamkeit zu bekommen und von anderen als besonders liebevolle Mutter Anerkennung zu erhalten. Dabei ähneln sich oft die Lebensumstände der Betroffenen:
- Sie sind meist alleinerziehend oder leben vom Partner getrennt.
- Sie sind durchschnittlich gebildet.
- Sie arbeiten in medizinischen Berufen oder haben ein großes Interesse an Medizin.
- Sie neigen zu Aggressionen.
- Sie fühlen sich oft alleingelassen oder isoliert.
- Sie waren in der Vergangenheit oft selbst Opfer von seelischer oder körperlicher Gewalt.
- Sie zeigen sich nach außen hin als besonders fürsorglich.
Wie erkennt der Arzt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Die Diagnose „Münchhausen-by-proxy-Syndrom“ stellt ein Arzt äußerst selten. Denn das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom lässt sich nur schwer nachweisen. Mütter, die ihr krankes oder verletztes Kind zum Arzt bringen, fallen in der Regel nicht als krankhaft auf. Die mütterliche Fürsorge ist ja eigentlich ganz normal, und die Misshandlung findet in den eigenen vier Wänden statt.
Deshalb liegt es meist bei Familienmitgliedern und engen Bekannten, ein seltsames Verhalten der Mutter zu erkennen. Ist ein Kind ungewöhnlich häufig krank oder hat ständig neue Verletzungen, sollten Sie hellhörig werden, ob nicht eine Misshandlung des Kindes stattfindet.
Münchhausen-proxy-by-Syndrom: nicht lange zögern
Beim Verdacht auf ein Münchhausen-proxy-by-Syndrom gibt es wiederum spezielle Ärzte und Therapeuten, die Erfahrung im Vorgehen bei der seltenen Erkrankung haben. Zum Wohle des misshandelten Kindes sollte nicht zu lange gezögert werden, denn eine Therapie kann dem Kind viel Leid ersparen. Die erste Anlaufstelle ist in jedem Fall das Jugendamt.
Ist das Kind zur Behandlung im Krankenhaus untergebracht und war bereits mehrfach wegen verschiedener Beschwerden dort, können die behandelnden Ärzte einen Nachweis per Videokamera erbringen. Denn in der Regel verändern die Mütter in Anwesenheit der Krankenschwester oder des Arztes sofort ihr Verhalten von aggressiv auf übermäßig liebevoll. Sehr häufig ist die Bindung zwischen Mutter und Kind so eng, dass das Kind niemals etwas gegen die eigene Mutter sagen würde. Umso schwieriger ist es für Behörden oder Ärzte, die Misshandlung aufzudecken.
Wie wird das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom behandelt?
Die Therapie des Münchhausen-by-proxy-Syndroms ist keine leichte Angelegenheit. Denn die Betroffenen sind sich meist selbst keiner Schuld bewusst. Der Therapeut muss deshalb ein großes Einfühlungsvermögen aufweisen, um überhaupt zur Patientin durchzudringen.

Verständnis und Geduld sind im Umgang der Mutter gefragt. Meist erfolgt die Behandlung bereits in einer geschlossenen Anstalt, da sich nur wenige Betroffene vorzeitig in Therapie begeben.
Wie kann ich dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vorbeugen?
Es gibt keine Möglichkeit zur Vorbeugung des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms. Die einzige Möglichkeit der Vorbeugung ist es, dem misshandelten Kind möglichst frühzeitig zu helfen.
Aufmerksames Beobachten und beherztes Einschreiten bei Kindesmisshandlung kann zumindest das Leiden des Opfers beenden und verhindern, dass es später selbst ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom entwickelt.
Wie sind die Heilungschancen beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom?
Die Chancen auf eine Heilung richten sich ganz danach, ob die betroffene Person ihr Fehlverhalten versteht oder nicht. Denn die meisten Mütter erkennen nicht, was sie ihrem Kind angetan haben und sehen sich immer noch als fürsorgliche Mutter. Das ist meist auf einen Mangel an Mitgefühl zurückzuführen, der sich auch durch eine Therapie schwer beheben lässt. Viele Betroffene enden deshalb in einer geschlossenen Anstalt.
Die betroffenen Kinder brauchen unbedingt ebenfalls therapeutisch Betreuung, denn eine jahrelange Misshandlung führt in den meisten Fällen zu psychischen Problemen. Im schlimmsten Fall endet sie sogar mit dem Tod des Kindes.