„Da spricht die große Schwester aus dir“ oder „ganz der kleine Bruder“ sind Aussagen, die Geschwisterkinder häufig hören. Auch dann noch, wenn sie das Familiennest längst verlassen haben. Die Vorstellung, dass die Reihenfolge der Geburt den Charakter formt, ist weit verbreitet – nicht nur unter Hobby-Psychologen. Grund genug, die Klischees auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, dachten sich ein paar Wissenschaftler.
Geschwister prägen uns. Klar, denn wir teilen nicht nur Haus, Hof und Kühlschrank über Jahre mit ihnen, sondern durchschnittlich auch die Hälfte unserer Gene. Aber da ist noch mehr. Im familiären Miteinander erfüllen Geschwister angeblich Rollen, die sie auch später als Erwachsene einnehmen. Sie verhalten sich ihr gesamtes Leben wie Erstgeborene, sogenannte Sandwichkinder oder Nesthäkchen.
Die Ältesten sollen besonders vernünftig, verantwortungsvoll und gewissenhaft sein. Während die Jüngsten als quirlig und kreativ gelten. Mittlere Kinder halten hingegen die Balance. Ihnen wird eine vermittelnde, kooperative Position nachgesagt. Aber woher kommen diese Stereotype eigentlich?
Geschwisterrollen und Psychologie
Wissenschaftler bewegt die Frage, ob die Geschwisterposition den Charakter formt, schon weit über 100 Jahre. Erhebliche Beachtung in jüngerer Zeit fand die Abhandlung von Frank Sulloway. Ende der 90er Jahre beschäftigte sein Buch „Der Rebell der Familie“ Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen. Der amerikanische Psychologe hatte zwanzig Jahre lang die Lebensläufe von 10.000 historischen Persönlichkeiten der vergangenen 500 Jahre verglichen.
Sein Fazit: Kinder besetzen in Familien bestimmte Nischen, von denen sie sich ihr ganzes Leben nicht mehr lösen. Sulloways Theorie zufolge orientieren sich Erstgeborene an den Eltern. Ihr Verhalten sei demnach angepasster, autoritärer, konservativer. Während die Nachzügler mit Neugier und Rebellion auf die geballte Vernunft in der Familie reagierten. Die Sandwichkinder arrangieren sich derweil irgendwo in der Mitte – sie sind die Sozialen.
Alles nur Klischee?
Aus Sulloways Annahmen wurden allgemeingültige Alltagsweisheiten. Bis sich Wissenschaftler der Universitäten in Mainz und Leipzig zusammentaten, um in einer großangelegten Studie zu prüfen, wie viel Wahrheit in den Analysen des Amerikaners steckt. Sie untersuchten Daten von mehr als 20.000 Erwachsenen aus Deutschland, den USA und Großbritannien.
In allen drei Ländern fanden sie keinerlei Zusammenhänge zwischen der Geschwisterposition und den zentralen Persönlichkeitsmerkmalen Offenheit, emotionale Stabilität, Umgänglichkeit und Pflichtgefühl. Lediglich im Hinblick auf den Intellekt gab es Effekte, wenn auch sehr kleine.
Erstgeborene schätzen ihre Intelligenz etwas besser ein als ihre Geschwister. Sie gaben an, über einen großen Wortschatz zu verfügen und abstrakte Ideen gut verstehen zu können. Außerdem wurde bei ihnen im Schnitt ein etwas höherer IQ gemessen. Alle kleinen Schwestern und Brüder müssen sich an dieser Stelle aber nicht grämen: Die Studienautoren betonen, dass der Effekt winzig und auf individueller Ebene nur wenig aussagekräftig ist.
Mit den Rollenzuschreibungen des Frank Sulloway haben die Leipziger und Mainzer Forscher also aufgeräumt. Im Klartext heißt das: Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es für die Entwicklung völlig egal, ob man als erstes, zweites oder drittes Kind geboren wurde. Praktisch gesehen, haben Erstgeborene dennoch einen enormen Vorteil: Sie müssen keine abgelegten Kleider der Geschwister auftragen.