Sie joggen früh um fünf schon durch den Park, fahren bei 40 Grad Hunderte von Kilometern mit dem Rad oder stemmen lieber Hanteln, als sich mit Freunden zu treffen: Menschen, die süchtig sind nach Sport. Wer davon betroffen ist, leidet – psychisch, sozial und körperlich, doch oft, ohne es zu merken. Wir haben mit einem Experten über Sportsucht und ihre Gefahren gesprochen.
Beim Wort „Sucht“ denken die meisten an Alkohol oder Drogen, vielleicht auch noch an Spielsucht. Tatsächlich gilt auch die Sucht nach Sport in der Psychologie als eigenständige Krankheit und zählt zur Kategorie der sogenannten Verhaltenssüchte. „Die Betroffenen zeigen das gleiche Verhalten wie Menschen, die alkohol- oder drogensüchtig sind“, erklärt der Sportpsychologe Dr. Heiko Ziemainz*. Doch auf wenn trifft die Diagnose „Sportsucht“ eigentlich zu? Eines vorweg: Auf alle, die früh um fünf Uhr joggen, sicher nicht.
Sportbindung oder Sportsucht?
Weil körperliche Aktivität entspannt, das Wohlbefinden steigert oder einfach Spaß macht (vor allem gemeinsam mit anderen), gehen ihr manche Menschen regelmäßig und gern nach. Psychologen sprechen hier von einer Sportbindung. Dr. Ziemainz: „Eine Sportbindung ist in jedem Fall etwas Positives. Und: Immer noch treiben viel zu wenige Menschen regelmäßig Sport.“ Doch was unterscheidet eine starke Sportbindung von einer Sportsucht?
Klar abgegrenzte Kriterien gibt es nicht, sagt Dr. Ziemainz. Das ist auch bei anderen Süchten so. Nicht jeder, der fünf Mal pro Woche oder gar täglich laufen geht, ist sportsüchtig. Dennoch gibt es einige Kriterien, anhand derer sich eine Sportsucht bestimmen lässt.
Fixierung auf den Sport
Sportsüchtige haben vor allem eines mit anderen Süchtigen gemein: Ihre Gedanken kreisen den ganzen Tag nur um ihren „Stoff“ – also um den Sport. „Wann kann ich das nächste Mal trainieren?“ Diese Frage treibt Sportsüchtige ständig um, ihr wird alles andere untergeordnet – egal, ob es der Partner, die Kinder, Freunde oder der Beruf sind, die vernachlässigt werden.
Sport vor Gesundheit
Das Knie schmerzt, die Schulter zwickt oder eine Erkältung kündigt sich an? Egal, Sportsüchtige trainieren trotzdem. Ihre Gesundheit ordnen sie dem Sport im Zweifelsfall unter. „Es gibt Einzelfälle, in denen Menschen immer noch joggen, obwohl ihre Füße völlig kaputt sind“, weiß Dr. Ziemainz.
Wer sportsüchtig ist, hört nicht mehr auf die innere Stimme, die rät, bei Krankheit oder Schmerzen den Körper zu schonen. „Das ist ein ganz entscheidender Unterschied zu denen, die mehr oder viel mehr Sport machen als die Allgemeinbevölkerung, aber nicht sportsüchtig sind.“
Hier liegt auch der wesentliche Unterschied zu Leistungssportlern: Für einen Sportsüchtigen spielt die Erholung nach dem Sport, das Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Regeneration keine Rolle.
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Entzugserscheinungen
Bei einer sehr extremen Form von Sportsucht kommt es wie bei Alkoholismus oder Heroinsucht zu Entzugserscheinungen, wenn die tägliche Dosis Bewegung ausbleibt. Die Betroffenen sind dann unausgeglichen, unruhig und gereizt.
Soziale Kontakte leiden
Genau wie bei anderen Süchten leiden auch bei einer Sportsucht die Bindungen zu anderen Menschen. Denn viel wichtiger als ein geselliger Abend mit Freunden oder ein gemütlicher Fernsehsonntag mit der Familie ist das Training, die nächste Sporteinheit. „Es gibt Eltern, die holen ihre Kinder nicht mehr vom Kindergarten ab, um noch eine Runde laufen oder Rad fahren zu können“, sagt Dr. Ziemainz.

Wer ist gefährdet?
Grundsätzlich kann jeder sportsüchtig werden. Doch in der Sportpsychologie geht man davon aus, dass sich die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, erhöht, wenn kritische Lebensereignisse (Scheidung, Tod eines Angehörigen, Kündigung) auf bestimmte Eigenschaften treffen.
„Besonders anfällig sind Menschen“, so Dr. Ziemainz, „die immer Leistung zeigen wollen und perfektionistisch sind, aber gleichzeitig ein geringes Selbstwertgefühl haben.“ Für sie kann ein belastendes Ereignis zum Auslöser werden, in eine Sportsucht abzugleiten.
Wie kann ich selbst herausfinden, ob ich sportsüchtig bin?
„Man sollte mal versuchen, ein paar Tage lang ohne Sport auszukommen,“ rät Dr. Ziemainz. „Man merkt dann schnell, wie gut einem das gelingt oder nicht.“ Wichtig: „Wenn man sich dabei nicht so ganz wohl fühlt, ist das ganz normal.“ Schließlich haben sich Körper und Psyche an die positiven Effekte des regelmäßigen Sports gewöhnt.
Gelingt es jedoch nicht, auch durch anderes Verhalten zu entspannen oder Stress abzubauen (zum Beispiel durch lesen, meditieren oder simples Nichtstun), dann sollten bei den Betroffenen die Alarmglocken läuten.
Hilfe bei Sportsucht
Sich aus eigener Kraft von der Sucht nach Sport befreien, ist möglich, sagt Dr. Ziemainz, aber sehr schwer: „Das Kind muss schon sehr tief in den Brunnen gefallen sein, damit es Klick macht.“ In der Regel kommen Betroffene nur mithilfe professioneller psychologischer Hilfe von ihrer Sucht los.
Experten für eine Behandlung sind alle Psychiater, Therapeuten oder Psychologen, die sich auf Verhaltenssüchte spezialisiert haben und (kognitive) Verhaltenstherapien anbieten. Ziel der Behandlung ist es, zu erkennen, warum Sport exzessiv betrieben wird, um anschließend alternatives Verhalten einzuüben.
Sind die Motive für das schädliche Verhalten Probleme in anderen Lebensbereichen, kann der Therapeut gezielt bei der Lösung helfen. War die Therapie erfolgreich, können die Betroffenen wieder so Sport treiben, dass ihr Körper und ihre Psyche davon profitieren – anstatt darunter zu leiden.
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*Unser Experte: Dr. Heiko Ziemainz ist Sportpsychologe und lehrt an der Universität Erlangen-Nürnberg. Der passionierte Triathlet betreut außerdem Leistungs- und Freizeitsportler im Bereich mentales Training. Sein Motto: „Nichts ist unmöglich“. Mehr Informationen über Dr. Ziemainz finden Sie hier.