Orthorexie: Wenn gesund essen zum Zwang wird

Orthorexie: Wenn gesund essen zum Zwang wird

Nur wenn sie gesund essen, fühlen sich Orthorektiker wohl. Doch diese Fixierung kann zum Problem werden.
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Sich gesund zu ernähren, wollen viele. Wer unter Orthorexie leidet, für den wird das Ziel zum Zwang. Nur was dem Körper gut tut, darf auf den Teller. Genuss oder Geselligkeit beim Essen spielen keine Rolle mehr. Das ist zwar keine Essstörung per se, für Betroffene dennoch ein großes Problem mit Folgen für Körper und Psyche.

Der Begriff „Orthorexie“ ist eine Wortschöpfung aus dem griechischen „orthos“ für „richtig, korrekt“ und dem griechischen „orexis“ für Appetit. Wer sich orthorektisch ernährt, für den steht also im Mittelpunkt, das Richtige zu essen.

Umgekehrt gilt: Es gibt jede Menge „falsches“ Essen, vor dem sich Orthorektiker hüten. Dabei tragen dieses Etikett nicht etwa besonders kalorienhaltige Lebensmittel, sondern solche, die gemeinhin als ungesund gelten, wie Süßigkeiten, Weißmehl oder Fertiggerichte.

Etwa 1 Million Menschen ernähren sich – so schätzen Experten – in Deutschland orthorektisch. Sie sind im Schnitt zwischen 30 und 50 Jahre alt und häufiger als bei anderen Essstörungen männlich.

Die Ursprünge der Diagnose „Orthorexie“

Sich gesund zu ernähren, war lange Zeit das erklärte Ziel von Steven Bratman. Der US-amerikanische Arzt lebte einmal nur von Obst, dann wieder nur von Rohkost, dann wieder ernährte er sich makrobiotisch. Ende der 1990er Jahre stellte er fest, dass eine seiner Patientinnen ein sehr zwanghaftes Essverhalten an den Tag legte und ihn laufend fragte, welche Lebensmittel sie denn besser von ihrem Speisezettel streichen solle, wenn sie gesund bleiben wolle.

Als therapeutischen Trick stellte er ihr die Diagnose „Orthorexia nervosa“ aus – in Anlehnung an die Fachbegriffe für Magersucht (Anorexia nervosa) und Bulimie (Bulimia nervosa). Sein Ziel war es, sie davon zu überzeugen, dass ihr Verhalten eine Störung war, die sie überwinden musste – was ihm auch gelang.

Lebensmittelpunkt gesundes Essen

Das Eis mit der Freundin, ein spontaner Grillabend mit der Familie oder ein Stück Kuchen mit den Kollegen – für Orthorektiker alles Situationen, die es zu vermeiden gilt. Denn sowohl Eis als auch Kuchen und Grillsteak fallen für sie in die Kategorie „ungesundes Essen“.

„Orthorektiker entwickeln eine so übertrieben große Angst vor schädlichen Nahrungsmitteln, dass sie sich äußerst strengen Ernährungsregeln unterwerfen“, sagt Diplom-Psychologin Dr. Bärbel Pawelec*. „Sie erstellen ein System von erlaubten und verbotenen Nahrungsmitteln, das immer rigider wird und ihren Alltag immer mehr bestimmt.“

Wenn Clean Eating zwanghaft wird

Nach Steven Bratmann verknüpfen viele Orthorektiker ihre Ernährung auch mit dem Aspekt von körperlicher Reinheit. Fehltritte beim Essen versuchen sie daher durch Entgiftungskuren oder Fasten zu korrigieren.

Die Grenze zwischen diszipliniertem, gesundheits-orientiertem Essen und Orthorexie ist mitunter fließend. Für Dr. Pawelec ist sie dann überschritten, „wenn die ständige Beschäftigung mit der Ernährung alles Denken und Tun beherrscht, und jeglicher Lebensinhalt auf das Essen übertragen wird.“

Gründe für orthorektisches Verhalten

Lebensmittelskandale, neue Erkenntnisse der Ernährungswissenschaft und Medizin – vor allem über die Folgen ungesunder Ernährung – machen es immer schwieriger, sich einen unverkrampften Umgang mit Lebensmitteln zu bewahren. „Und die Sehnsucht nach guten und die Gesundheit erhaltenden, zumindest nicht schädlichen Lebensmitteln ist sehr verständlich. Vor diesem Hintergrund lässt sich Orthorexie bis zu einem gewissen Maß nachvollziehen“, findet Dr. Pawelec.

Ernährung als Kontrollsystem

Doch nicht nur das Bedürfnis, seinem Körper durch das richtige Essen etwas Gutes zu tun, steht im Mittelpunkt, so die Psychologin. Orthorektiker wollen durch ihr Verhalten auch ein Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit befriedigen:

„Die Betroffenen versuchen, sich gegen die unkontrollierbaren Gefahren der Welt abzusichern, indem sie ihnen ein eigenes Kontrollsystem entgegensetzten. Wer wenigstens überprüfen kann, was er isst, fühlt sich weniger ausgeliefert.“

Ihr Essverhalten gibt Orthorektikern das Gefühl, durch ihre Ernährung wenigstens die eigene Gesundheit bestimmen zu können. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht der gelegentliche Sündenfall beim Essen Gefühle von Kontrollverlust und Schuld auslösen würde. Ob sich ein Orthorektiker gut fühlt, ist im Wesentlichen davon abhängig, ob es ihm gelingt, sich an seinen strikten Ernährungsplan zu halten und allen ungesunden Lebensmitteln zu entsagen. Diese emotionale Abhängigkeit vom eigenen Essverhalten ist eine wesentliche Parallele zwischen Orthorektikern und Magersüchtigen.

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Nährwertangaben im Supermarkt studieren: Alltag für Orthorektiker. (c) Colourbox.de

Die Gefahren von Orthorexie für Betroffene

Obwohl es Orthorektikern so sehr um ihre Gesundheit geht: Ihr Verhalten schadet sowohl ihrem körperlichen als auch ihrem psychischen Wohlergehen.

  • Zum einen wird die Orthorexie zur Gefahr für das Sozialleben. Orthorektiker wenden einen Großteil ihrer freien Zeit für ihre Ernährung auf. Für Treffen mit Freunden, die Familie oder Hobbys bleibt keine Zeit mehr. Auch weil es ihnen so gut wie unmöglich ist, in Gesellschaft oder auswärts zu essen, ziehen sie sich zurück und werden sozial isoliert.
  • Auch der Genuss am Essen geht ihnen verloren. Wer unter Orthorexie leidet, verzichtet auf Lebensmittel, die er früher gerne aß, nur um in Sachen gesunde Ernährung nichts falsch zu machen. Ob Essen gut ist, bestimmt sein ernährungsphysiologischer Wert, nicht sein Geschmack.
  • Hinzu kommt: Stimmung und Selbstwertgefühl von Orthorektikern sind direkt damit verknüpft, was sie essen oder eben nicht. Ein kleines Stück Schokolade wird zur Bedrohung für Ausgeglichenheit und Wohlbefinden. Außerdem bringen sie einzelne Lebensmittel direkt mit bestimmten Krankheiten in Verbindung – was den Druck, „richtig“ zu essen noch erhöht.

In der Summe führen diese Folgen des orthorektischen Verhaltens dazu, dass die Lebensqualität der Betroffenen ständig abnimmt – was sie aber lange selbst nicht erkennen. Erst wenn sich Freunde und Familie zurückziehen, Mangelerscheinungen auftreten oder die Leistungsfähigkeit nachlässt, stehen die Chancen gut, dass das Essverhalten überdacht und das starre System aus „richtigem“ und „falschem“ Essen gelockert wird.

*Unsere Expertin: Dr. phil. Bärbel Pawelec ist Diplom-Psychologin mit eigener Praxis in Nürnberg. Zu ihren Schwerpunkten zählen unter anderem Psychotherapie, Beratung, Coaching und Burn-Out-Prophylaxe.

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