Die Diagnose Krebs ist ein Schock. Viele Betroffene fühlen sich im ersten Moment völlig hilflos. Auch für die Familie und Freunde stellt sich jetzt die Frage, wie sie mit dieser Diagnose umgehen sollen. Ein allgemeingültiges Rezept gibt es natürlich nicht. Aber Hilfestellung.

Dr. Lutz Wesel, Mediziner und Buchautor, war vor einigen Jahren selbst in der Situation, mit einer Krebsdiagnose umgehen zu müssen. Nach überstandener Krebstherapie hat er jetzt ein Buch geschrieben, in dem er seine Erfahrungen mit der Krankheit und ihren Begleitumständen teilt: „Krebs – Vom Diagnoseschock zum besonnenen Handeln: Hilfe für Erkrankte und ihre Angehörigen“. Ein Interview mit dem Autor.
Herr Dr. Wesel, nach Ihrem Ratgeber „Wie sag ich’s meinem Doc?“ widmet sich Ihr neues Buch der Frage, wie man mit der Diagnose Krebs umgehen kann. Was macht die Diagnose für Patienten und ihre Angehörigen so anders als alle anderen Diagnosen?
Lutz Wesel: Die Krebsdiagnose unterscheidet sich von nahezu allen anderen Diagnosen durch ihre plötzliche und unmittelbare Konfrontation mit Leiden und Tod. Für viele Menschen stellt sie das „Worst Case Scenario“ dar. Bei den allermeisten tauchen sofort Horrorvisionen von schrecklichen, unmenschlichen Therapien mit furchtbaren Nebenwirkungen auf. Aus dieser Erfahrung heraus, die ich als Arzt, aber auch als Patient gemacht habe, hielt ich es für nötig, ein Buch zu schreiben, das sich an frisch diagnostizierte Krebspatienten und ihre Angehörigen richtet. Es soll ihnen in kompakter und leicht verständlicher Form alle notwendigen Informationen geben. Außerdem soll es ihnen zeigen, dass man so eine Erkrankung durchaus ruhig und besonnen angehen und heil überstehen kann.
Sie erklären gleich zu Beginn Ihres Buches, Krebs sei heilbar. Ist das nicht eine äußerst gewagte Aussage?
Lutz Wesel: Keinesfalls! Denn erstens werden heutzutage weit über die Hälfte aller Krebspatienten geheilt. Und zweitens ist in meinem medizinischen Weltbild prinzipiell kein Platz für den Begriff „unheilbar“. Mir ist jedenfalls keine Krankheit untergekommen, von der Menschen nicht wider aller Erwartungen und Prognosen geheilt wurden. Man kann also niemals sicher wissen, wie das Schicksal des einzelnen Patienten verläuft. Ich bin mir natürlich darüber bewusst, dass man bestimmte Krankheiten ernst nehmen muss, weil sie potenziell lebensbedrohlich sind. Das muss man den betroffenen Patienten kommunizieren, damit sie wissen, woran sie sind.
Gleichwohl würde ich als Arzt den Begriff „unheilbar“ niemals gegenüber einem Patienten erwähnen. Das kommt einem Todesurteil gleich und hat eine ungeheuer negative Wirkung. Die Forschungsergebnisse der Psychoneuroimmunologie (kurz: PNI) lehren uns, dass solche Aussagen das Immunsystem eines Patienten massiv schädigen. Sie können somit leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung (Self fulfilling prophecy) werden.
Bei vielen Patienten besteht ein Bedürfnis, sich nach der Diagnose Krebs so viele Informationen wie möglich zu beschaffen, um schnell die Kontrolle über das eigene Schicksal zurückzugewinnen. Auch Sie haben, als Sie selbst schwer an Krebs erkrankten, so gehandelt. Dennoch raten Sie Lesern, aufs „Googeln“ unbedingt zu verzichten. Warum?
Lutz Wesel: Es gibt rund 3.000 verschiedene Krebsarten. Zu jeder einzelnen davon sind im Internet zigtausende von Einträgen zu finden. Das „Googeln“ von medizinischen Sachverhalten überschwemmt Patienten mit einem Tsunami von Informationen. Diese sind sehr komplex und auch widersprüchlich. Einem Laien ist es dann schlichtweg unmöglich, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu einem klaren Bild zu kommen. Die Suchergebnisse liefern Informationen, aber kein Wissen. Wissen entsteht aus der Kombination von Information und Erfahrung.
Ein Arzt braucht sechs Jahre Studium plus nochmals rund sechs Jahre Facharztausbildung, bis er sich in einer medizinischen Fachdisziplin einigermaßen auskennt. Und dann braucht er noch viele Jahre mehr, bis er es darin zur Meisterschaft gebracht hat. Deshalb ist es völlig unrealistisch zu erwarten, dass man als Laie in ein paar Stunden Internet-Recherche in der Lage sein soll, derart komplexe Zusammenhänge begreifen zu können und sich dadurch in die Lage versetzt, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Sie sprechen von Wissen und Erfahrung, dann wäre für Krebspatienten der Arzt letztlich doch alternativlos der einzige Lotse durch die Krankheit…
Dr. Lutz Wesel: Das sehe ich so. Genauer gesagt, sollte der Hausarzt Lotse und Ansprechpartner Nummer eins sein. Denn er hat neben dem medizinischen Sachverstand auch noch die Kenntnis über die Persönlichkeit und die Lebensumstände des Patienten. In der heutigen medizinischen Realität ist es oft so, dass Krebspatienten völlig von den beteiligten Fachärzten und Onkologen vereinnahmt werden. Der Hausarzt bekommt sie dagegen monatelang nicht mehr zu sehen.
Sie trennen den Krankheitsverlauf in zwei Phasen: Die Phase der Bekämpfung des Krebses und die Phase der Rehabilitation. Die erste Phase vergleichen Sie mit einem Feuerwehreinsatz. Warum haben Sie ein solch eindringliches Bild gewählt?
Lutz Wesel: Die von mir vor vielen Jahren erfundene „Feuerwehr-Metapher“ hat sich im Kontakt mit Krebspatienten als sehr nützlich erwiesen. Vielen Patienten ist nicht klar, dass eine Krebserkrankung keinen Aufschub duldet. Denn mit jeder Woche ohne adäquate Behandlung sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung vollständig geheilt werden kann. Sie haben Angst vor der Radikalität einer schulmedizinischen Behandlung und liebäugeln damit, es erst einmal mit „sanften“ Methoden zu versuchen. Bei aller Sympathie für sanfte Methoden, die ich in vielen Fällen leichterer Erkrankungen durchaus für sinnvoll halte: Es ist doch so, dass eine Krebserkrankung eine schwere, potenziell lebensbedrohliche Situation darstellt. Und auf diese muss man schnell und mit allen gebotenen Mitteln reagieren.
Und das vergleiche ich dann eben mit einem Brand. Da muss man die Feuerwehr rufen, um weiteren Schaden zu vermeiden. Wenn Ihr Haus in lichterlohen Flammen steht, greifen Sie ja auch nicht zur Gießkanne, weil Ihnen die Feuerwehr zu aggressiv erscheint. Besser, Sie rufen gleich die Spezialisten für Brandbekämpfung und lassen die machen. Erst später kümmern Sie sich darum, die Kollateralschäden des Feuerwehreinsatzes zu beheben. Und das kann man im Fall von Krebserkrankungen dann durchaus mit sanften Methoden machen.
Während Sie in der akuten Behandlungsphase auf die Schulmedizin setzen, empfehlen Sie in der Rehabilitation vielfältige Mittel, um dem Patienten wieder zu neuem Lebensmut und Gesundheit zu verhelfen…
Lutz Wesel: Ich bin tatsächlich der Meinung, dass die Schulmedizin in der Primärbehandlung einer Krebserkrankung alternativlos ist. Aber ich kann mich an kaum einen Krebspatienten erinnern, der sich am Ende einer schulmedizinischen Behandlung nicht ziemlich „platt“ gefühlt hat und wieder zu Kräften kommen wollte. Und dies nicht nur in körperlicher Hinsicht, sondern auch in emotionaler. Schließlich ist eine Krebserkrankung beileibe nicht nur ein körperliches Ereignis. Sie rüttelt den ganzen Menschen durch, an Körper, Geist und Seele. Es kommt also oft darauf an, einen ganzheitlichen Ansatz anzubieten. Unter „ganzheitlich“ verstehe ich ein therapeutisches Spektrum, das aus Schulmedizin, Naturheilverfahren, psychologischen, energetischen und spirituellen Elementen bestehen kann – je nach Befindlichkeit und Bedürfnissen der Patienten. Gemäß dem Motto „wer heilt, hat Recht“ ist mir prinzipiell alles willkommen, was der Patient als heilsam empfindet.
Ich gebe auch zu bedenken, dass die komplementär-medizinischen Methoden von den Patienten gemeinhin als „sanfte Medizin“ erfahren und geschätzt werden. Sie nehmen diese als wohltuend und heilsam wahr. Allein das hat bekanntermaßen in einem hohen Prozentsatz der so behandelten Fälle einen Placeboeffekt zur Folge, der einen wesentlichen Beitrag zur Heilung leisten kann. Das ist ein wissenschaftlich eindeutig belegter Fakt. Den müssen selbst jene Hardcore-Mediziner einräumen, welche die naturheilkundlichen Methoden als unwirksam ablehnen. Keinesfalls recht sind mir jedoch die sich auf diesem Feld zahlreich tummelnden Scharlatane, die erkannt haben, dass man sich an der Not schwer erkrankter und verzweifelter Menschen eine goldene Nase verdienen kann. In meinem ersten Buch habe ich deshalb sehr ausführlich erklärt, wie man seriöse von unseriösen Anbietern unterscheiden kann.

Ungewöhnlich für einen Mediziner ist, dass Sie der Spiritualität viel Platz im Heilungsprozess einräumen.
Lutz Wesel: Ja, für einen Mediziner mag das auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Schließlich steht die Schulmedizin ja in einer rationalen, wissenschaftlichen Tradition, wo Spiritualität kaum Platz hat. Wenn ich mich recht entsinne, nennt sich mein Fach aber auch „Human-Medizin“, was bedeutet, dass es hier um Menschen geht. Und Menschen sind nach meinem Dafürhalten spirituelle Wesen. Und zwar jeder Mensch. Viele mögen das nicht wissen, aber spätestens, wenn sie konkret mit dem Tod konfrontiert sind, wie das bei einer Krebserkrankung eben der Fall ist, fangen die meisten an, sich mit spirituellen Fragen auseinanderzusetzen. Was ist der Sinn des Lebens? Was ist der Sinn dieser Erkrankung? Muss ich sterben? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Was soll von mir bleiben?
Wenn es Menschen dann gelingt, auf solche Fragen befriedigende Antworten zu finden, kann das nicht nur – wiederum auf psycho-neuroimmunologischem Wege – die Heilung fördern. Es kann auch dafür sorgen, dass ein Mensch in Frieden mit sich, Gott und der Welt in Frieden gehen kann, wenn die Zeit gekommen ist. Oder, um Suzi Smith, eine liebe amerikanische Freundin und große Therapeutin zu zitieren: „Healing doesn’t necessarily mean curing“ (Heilung muss nicht unbedingt bedeuten, dass jemand wieder gesund wird).
Sinnhaftigkeit zählt für Sie zu den zentralen Faktoren der Krisenbewältigung. Ebenso wichtig sind Verstehen, Machbarkeit und das soziale Netz. Wie wirken diese Faktoren im Genesungsprozess zusammen?
Lutz Wesel: Die Stressforschung hat gezeigt, dass Menschen dann am ehesten mit großen Belastungen zurechtkommen, wenn sie verstehen, was vorgeht. Außerdem hilft es, wenn sie das Gefühl haben, dass sie selbst etwas tun können, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Drittens wirkt es sich positiv aus, wenn sie dem Ganzen einen Sinn abgewinnen können. Der vierte hilfreiche Faktor besteht darin, dass es die Belastbarkeit fördert, wenn Menschen in ein soziales Netz eingebettet sind, welches ihnen Trost, Mut und Liebe schenkt.
Diese Erkenntnisse lassen sich wunderbar in der psycho-onkologische Arbeit mit Krebspatienten anwenden. Man erklärt ihnen genau, was es mit der Diagnose und Therapie auf sich hat und bindet sie in die notwendigen Entscheidungen ein. Man gibt ihnen Mittel zur Selbsthilfe an die Hand. Und man hilft ihnen, dem ganzen einen Sinn abgewinnen zu können, für den es sich einzusetzen lohnt. Nicht ohne Grund werden diese Faktoren unter dem Begriff „Salutogenese“ zusammengefasst. Er weist ja darauf hin, dass sie etwas mit Heilung zu tun haben. (lateinisch salus = Wohl, Wohlbefinden, Heil, Sicherheit, Gesundheit; griechisch genesis = Geburt, Entstehung).
Was würden Sie als Arzt, Krebspatient und systemischer Therapeut einem frisch diagnostizierten Patienten zurufen?
Lutz Wesel: Ruhig Blut! Das ist eine ernste Situation, die Ihre volle Aufmerksamkeit und Engagement erfordert. Deshalb kommt es jetzt darauf an, Ruhe zu bewahren, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, mit der richtigen Einstellung heranzugehen und mit Mut und Hoffnung voranzuschreiten.
Kommen wir zum Schluss noch kurz zum sozialen Umfeld. Die Diagnose Krebs versetzt Patienten und Angehörige in Stress. Was können Betroffene tun, damit der Gesprächsfaden nicht abreißt und eine heilsame Kommunikation möglich bleibt?
Lutz Wesel: Diese Frage zielt auf ein ausgesprochen wichtiges Thema. Durch die mit der Diagnose und Therapie einhergehende psychische Belastung fragen sich viele Krebspatienten und deren Angehörige, ob sie Partner und Angehörige mit ihren Gedanken, Sorgen und Nöten belasten dürfen. Viele fühlen sich auch unsicher, ob und wie sie darüber reden können, welches der richtige Moment und die richtigen Worte sind. Über diese Unsicherheit kann sich leicht ein „Mantel des Schweigens“ ausbreiten, der dann jeden Beteiligten mit seinen Gedanken und Gefühlen einsam und alleine lässt. Das darf nicht sein!
Und es gibt auch keinen triftigen Grund dafür. Denn wenn ein Problem im Raum steht und jeder darum weiß, warum soll man dann nicht auch mit seinen Nächsten und Liebsten darüber reden dürfen? Wie der Volksmund so schön sagt: „Geteiltes Leid ist halbes Leid!“. Psychologische Studien haben eindeutig bewiesen, dass ein intaktes Sozialleben einen wesentlichen Einfluss auf das Überstehen von schweren Belastungen darstellt. In meinem Buch zeige ich deshalb detailliert auf, wie man es schafft, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt und wie man auch in schwierigen Situationen die richtigen Worte findet.
Herr Dr. Wesel, herzlichen Dank für das Gespräch.